Aversive Reaktion schadet dem Vertrauen und der Sicherheit
Erst letzte Woche bin ich wieder in einer Diskussion auf Facebook gelandet. Es ging um einen Welpen, der zwickt und recht aufgedreht ist, jedoch gut zur Ruhe kommt, sobald das Herrli sich am Boden setzt und der Welpe auf seinem Schoß Nähe erfahren darf. Dann beruhigt sich der 11 Wochen alte Welpe sofort und schläft ein. Die Frage war, was er denn tun könnte, damit der Welpe nicht mehr zwickt – die Antwort hat er ja eigentlich schon mitgeliefert. Trotzdem kamen viele „kluge“ Antworten mit aversiven Ansätzen wie zum Beispiel einen Biss in der Halsgegend zu imitieren, in dem mit zwei Fingern beim Hals gestoßen wird oder sogar wirklich ins Ohr zu beißen. Wenn ich solche Empfehlungen lese, schmerzt mir das Herz. Ein kleiner Welpe wird aus seiner gewohnten Umgebung gerissen, weg von seiner Mutter, die ihn beschützt und seinen Geschwistern, mit denen er hundgerecht spielen durfte, hin zu einer vollkommen neuen Familie in eine neue Umgebung. Und nun soll dieser Welpe, der noch keine Stress- und Emotionsregulation gelernt hat (in diesem Alter neurophysiologisch noch gar nicht möglich), der einfach nur Schutz und Nähe braucht, um mit seiner Aufregung zurecht zu kommen, von seinem neuen Halter „gebissen“ werden. Wie soll denn da bitte Vertrauen entstehen?
Damit eine sichere Bindung entstehen kann ist Vertrauen ein wesentlicher Aspekt!
Die Bindungsfigur, in diesem Fall der Halter, sollte Sicherheit und Schutz bieten. Dies ist neben dem Lernen von Stress- und Emotionsregulation eine der Hauptfunktionen von Bindung. In freier Wildbahn würde solch ein kleiner Welpe keine zwei Tage allein überleben, er ist auf den Schutz von erwachsenen Tieren/Menschen angewiesen. Erfährt der Welpe, dass er sich an seinen Menschen wenden kann, diesem vertrauen kann, so kann eine sichere Bindung entstehen. Wird der Welpe jedoch durch aversive Methode verängstigt und erfährt, dass der Halter eine Bedrohung darstellt, ist die Entstehung einer sicheren Bindung unwahrscheinlich. Und nur so nebenbei: Eine gute sozialisierte, gesunde und entspannte Mutterhündin würde ihren Welpen nicht beißen, die erzieherischen Maßnahmen der Hunde erfolgen vor allem gegenüber Welpen wesentlich subtiler, sonst hätten die Welpen ziemlich schlechte Überlebenschancen.
Du hilfst deinem Hund, seine Emotionen regulieren zu lernen
Es ist vollkommen normal, dass ein 11 Wochen alter Welpe seine Emotionen und Aufregung nicht selbst regulieren kann. Er braucht eine entspannte erwachsene Bezugsperson, über welche er lernt zur Ruhe zu kommen. Dies geschieht zumeist am besten über Körperkontakt und Nähe zueinander. Dadurch wird das sogenannte Bindungshormon Oxytozin ausgeschüttet, welches die Stressregulation dämpft. Es führt zu Entspannung, fördert Vertrauen und ebenso soziale Beziehungen. Der Hund erfährt, dass er sich bei Aufregung an seinen Halter wenden kann und dieser ihn unterstützt.
Die Ursache finden und bearbeiten
Hinter jedem Verhalten steckt eine zugrundeliegende Emotion und entsprechende Motivation! Ich kann nun das Verhalten abstrafen und somit unterdrücken, die Emotion z.B. Unruhe, Angst etc. bleibt jedoch bestehen. Oder ich setze an der Ursache an und verändere die Emotion z.B. Aufregung reduzieren durch bindungsorientierte Begleitung. Das Verhalten ändert sich dann automatisch, da sich die zugrundeliegende Emotion verändert – der Hund kommt zur Ruhe, entspannt sich und hat keinen Grund mehr wild um sich zu beißen!
Natürlich ist jeder Hund anders, das bedeutet, es kann viele Ursachen für zwicken beim Welpen geben – z.B. Zahnen, Unterforderung, Überforderung etc. daher ist es sinnvoll die Ursache zu eruieren und dort anzusetzen. In dem erwähnten Fall war die Ursache überdreht sein durch Übermüdung, der Welpe konnte von allein nicht zur Ruhe finden. Er wurde dabei von seinem Halter liebevoll unterstützt und das Verhalten hat sich entsprechend geändert. Manchmal darf es auch einfach sein!
Vivo braucht Kuschelkontakt
Ich möchte dies anhand eines Beispiels mit meinem Rüden Vivo darstellen. Ich habe ihn mit ca. sieben Monaten aus dem Tierschutz übernommen. Er war schon damals ein super Hund, keine wirklichen Probleme, mit allen verträglich, super zugänglich und den Umständen entsprechend recht entspannt. Trotzdem ist er von allein nur schwer zur Ruhe gekommen, wenn er aufgedreht war, wie zum Beispiel nach dem Spazieren gehen. Dann lief er in der Wohnung umher und hat gewinselt, ging mal hier hin, mal da hin und winselte weiter. Nun kann ich das Winseln abstrafen, ergo Hund assoziiert mich mit etwas Unangenehmen – keine gute Idee! Ich kann das Winseln ignorieren, was sicher viele TrainerInnen empfehlen würden. Nur ignoriere ich dann auch sein Bedürfnis nach Unterstützung und sein Bindungsverhalten, welches zeigt, dass er aufgeregt und überfordert ist – in diesem Fall auch keine gute Idee, da nicht bindungsorientiert. Was war nun mein Ansatz? Ich habe Vivo zu mir gerufen, er hat sofort Körperkontakt gesucht, ich habe ihn gestreichelt, vor allem Bauchi gekrault – das liebt er bis heute. Vivo hat sich dadurch sehr schnell beruhigt, neben oder manchmal sogar auf mich gelegt – er hat ja zum Glück nur 20 kg 😉 Nach kurzer Zeit ist Vivo eingeschlafen. Habe ich jedoch zu früh aufgehört zu streicheln, war er wieder voll da im Sinne von weiter machen. Streicheln beenden ging somit erst, wenn er wirklich geschlafen hat. Wenn Du Kinder hast, wird Dir das wahrscheinlich bekannt vorkommen 😊
Vivo hat somit über mich gelernt in den Schlaf zu finden, Anfangs brauchte er gute 20 Minuten, dann nur mehr 15 Minuten, 10 Minuten etc. und nach einigen Wochen konnte er selbst bei Aufregung sehr gut alleine in den Schlaf finden, natürlich trotzdem möglichst nahe bei mir, denn Nähe fördert Oxytozinausschüttung und reduziert somit Stress und Aufregung!
Jedes Problem ist individuell
Das heißt nicht, dass dies die Lösung aller Probleme ist – bei weitem nicht! Denn auch hier stellt sich die Frage, was die Ursache des Verhaltens ist. Winselt der Hund, weil er raus muss, ist dieser Ansatz wohl kontraproduktiv und führt zu einem Hoppala in der Wohnung. Winselt er, weil er um Futter bettelt oder weil er Schmerzen hat, braucht es wieder einen anderen Ansatz.
Abschließend möchte ich den Religionsphilosophen Martin Buber zitieren:
„Am Du werden wir erst zum Ich.“
Martin Buber
Dies trifft nicht nur auf Menschen zu, sondern ebenso auf andere sozial lebende Tiere. Wir brauchen das Du, über welches wir uns entwickeln können und zum Ich werden.
In diesem Sinne wünsche ich Dir eine schöne Zeit mit Deinem Vierbeiner, der sich Dir anvertraut hat!
Iris Schöberl
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Ariane Ullrich
1 Gedanke zu „Mensch-Hund-Bindung — von der Theorie zur Praxis“
Liebe Iris
Vielen Dank für diesen wunderbaren Beitrag über Bindungsverhalten zwischen Hund und Mensch. Ich kann dem allem nur voll zustimmen und bin dankbar, dass dieses Thema endlich mehr Gewicht erhält, da es doch als Schlüssel zum Hund und seiner Persönlichkeit basiert.
Ich arbeite seit 30 Jahren mit Menschen und ihren Hunden. In all den Jahren habe ich wundervolle Teams begleiten/ausbilden dürfen. Aus dieser Zeit ist nicht ein einziger, auffälliger Hund hervorgegangen, nur weil wir einen achtsamen Umgang leben, ganz im Gegenteil. Danke und bitte weiter so.